Mit der Verlängerung vom Hauptbahnhof zur Turmstraße sind bisher gerade einmal 2,2 Kilometer neue Straßenbahnstrecke in der laufenden Legislaturperiode in Betrieb gegangen und es werden auch keine weiteren dazukommen. Stattdessen muss die Verwaltung auf Betreiben der straßenbahnskeptischen CDU einige vom Vorgängersenat beschlossene Neubaustrecken erneut prüfen, auch wenn es wie bei den Strecken Alexanderplatz–Leipziger Straße–Kulturforum und Warschauer Straße–Hermannplatz schon weit fortgeschrittene Planungen gibt. Die Taktik ist durchschaubar: Es geht wie schon bei der Fahrradinfrastruktur schlicht um Verzögerung und Verhinderung.
Dabei könnte ein forcierter Ausbau des Straßenbahnnetzes gleich mehrere Probleme lösen. Zum Beispiel den chronischen Personalmangel bei der BVG, schließlich kann die Tram deutlich mehr Fahrgäste als der Bus befördern. Das neueste Modell, der ab 2025 verkehrende Urbanliner, hat Platz für 312 Personen; der größte Doppeldeckerbus hingegen nur für 112. Oder die schleppende Elektrifizierung des Nahverkehrs, die aus Klimaschutz- und Luftqualitätsgründen nötig ist. Außerdem ist bei den Straßenbahnen nicht nur die Beförderungskapazität, sondern auch die Attraktivität größer. Alle Streckeneröffnungen der letzten Jahrzehnte führten zu Fahrgastzuwächsen, offensichtlich steigen Autofahrende lieber auf Schienenfahrzeuge als auf Busse um. Nicht zuletzt bringt ein Tramstreckenneubau Chancen für die Umgestaltung des öffentlichen Raums: breitere Gehwege, Radspuren, mehr Bäume und Entsiegelung durch Rasengleise.
Wo sollten die neuen Tramstrecken für Berlin entstehen? Das hat das Bündnis „Pro Straßenbahn“, dem auch der BUND angehört, gründlich geprüft. Herausgekommen ist ein Zielnetz 2050, das den bisherigen 199 Kilometern Straßenbahnnetz 286 weitere hinzufügt. Diese Strecken sollen Neubaugebiete anbinden, überlastete Buslinien ersetzen und Netzlücken schließen. Dementsprechend liegen die Prioritäten des Tramausbaus in den Außenbezirken, wo die größten Bauaktivitäten stattfinden, und in der westlichen Stadthälfte, wo man bis Ende der 1960er-Jahre alle Straßenbahnlinien stillgelegt, aber nur zu etwa 20 Prozent durch U-Bahnen ersetzt hatte. Analysiert haben die Fachleute von „Pro Straßenbahn“ alle Buslinien, wo heute Gelenk- oder Doppeldeckerbusse mindestens im Zehnminutentakt fahren, samt Verspätungsanfälligkeit, Reisegeschwindigkeit und Überfüllungsmeldungen. Was zeichnet die vorgeschlagenen Tramkorridore aus? Sie sollen unter anderem möglichst gradlinig verlaufen, von der Fahrbahn getrennte Gleise ermöglichen, U- und S-Bahnhöfe anbinden, neue Direktverbindungen schaffen und Umsteigezwänge vermeiden.
Das Pro-Straßenbahn-Zielnetz schafft völlige neue Korridore. So etwa von Rathaus Steglitz über Mariendorf nach Lichtenrade, vom Märkischen Viertel über den Hauptbahnhof zum Wittenbergplatz oder vom Kurt-Schumacher- Platz über den ehemaligen Flughafen Tegel und die Insel Gartenfeld bis nach Spandau. Auf den heute am stärksten mit Autoverkehr belasteten Achsen setzt das Zielnetz auf die Schiene, so zum Beispiel von Staaken über Heerstraße und Kantstraße zum Zoo, wo heute abschnittsweise bis zu 50.000 Kraftfahrzeuge täglich fahren. Für die vielen Pendler*innen bedeutet eine Tram dort mehr Sitzplätze und dank eigener Trasse einen deutlichen Zeitgewinn. Apropos: Auf einigen Korridoren sollen die Straßenbahnen durchschnittlich 25 km/h fahren. Zum Vergleich: Auf den Linien U1, U2, U3 und U4 fährt die BVG heute durchschnittlich 26 km/h.
Aber warum entwirft man ein Netz mit 286 Kilometer Neubaustrecke, wenn die Regierenden weniger als einen Kilometer Tramneubau pro Jahr schaffen? Damit das große Ziel einer menschen- und klimafreundlichen Politik auch angesichts des verkehrspolitischen Stillstands unter Schwarz-Rot nicht völlig aus dem Blick gerät. Außerdem gilt es Flächen für Trassen und Betriebshöfe freizuhalten, auch wenn die Realisierung noch einige Jahre dauern wird.
Zum Zielnetz 2050 von Pro Straßenbahn
Dieser Artikel erschien in der BUNDzeit 4/2024.