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Gratis von Estland bis Malta

08. November 2022 | BUNDzeit-Artikel, ÖPNV

Wo der ÖPNV in Europa die Nutzer*innen nichts kostet und was davon zu halten ist

Die Luxemburger Straßenbahn bei ihrer Eröffnung Ende 2017. Foto: GilPe, CC BY-SA 4.0, www.kurzelinks.de/ccbysa4

Die Geschichte des kostenlosen Nahverkehrs in Europa beginnt im ostbelgischen Hasselt. Weil die damals knapp 70.000 Einwohner*innen zählende Stadt im Autoverkehr erstickte, aber kein Geld für eine weitere Umfahrungsstraße hatte, führte sie 1997 den Nulltarif für die städtischen Busse ein. Darauf stieg die Zahl der jährlich beförderten Fahrgäste von bislang 360.000 auf über vier Millionen im Jahr 2004. Der motorisierte Individualverkehr ging deutlich zurück und die Stadtverwaltung reduzierte die Fahrspuren des Innenstadtrings zugunsten von Radwegen und Straßenbäumen. Doch 2013 endete die freie Fahrt für alle, weil die Stadt die jährlichen Betriebskosten von dreieinhalb Millionen Euro nicht mehr zahlen wollte. Ein wenig scheiterte der kostenlose Busverkehr auch am eigenen Erfolg, denn zu seiner Finanzierung hatten gebührenpflichtige Parkplätze beigetragen, die immer weniger nachgefragt wurden.

Auch in Templin fristete der Busverkehr Ende der Neunzigerjahre ein Schattendasein, neun von zehn Fahrten unternahmen die 16.000 Bürger*innen der uckermärkischen Kleinstadt mit dem Auto. 1998 startete der fahrscheinlose Betrieb. Eine konsequente Entscheidung, schließlich hatten die Einnahmen aus dem Fahrscheinverkauf weniger als ein Zehntel der Betriebskosten gedeckt – und eine folgenreiche: Von 41.000 im Jahr 1997 stieg die Zahl der Fahrgäste auf über 600.000 im Jahr 2001. Weil die Stadt den Takt der Busse auf 15 Minuten verdichtete, verdreifachte sich der nötige Zuschuss. Unterdessen entwickelten sich die Werbeeinnahmen nicht wie geplant, weshalb das Busfahren in Templin seit 2003 wieder Geld kostet. Allerdings halten sich die Fahrpreise mit derzeit 44 Euro für eine Jahreskarte in Grenzen. Zum Vergleich: Für den ganzen Landkreis kostet die Jahreskarte im günstigsten Fall 908 Euro. Die Fahrtgastzahlen hatten sich vor der Pandemie bei 280.000 jährlich eingependelt. Nach Angaben des Bürgermeisters sind im Lauf der Zehnerjahre dank des nach wie vor stark subventionierten Busangebots die Autofahrten in der Stadt um 20 Prozent und die Stickstoffbelastung um 25 Prozent gesunken.

Seit 2009 fahren im südfranzösischen Aubagne bei Marseille die Busse und seit 2014 auch eine knapp drei Kilometer lange Straßenbahnlinie zum Nulltarif. Nach einem Machtwechsel im Rathaus der 47.000 Einwohner*innen zählenden Stadt wurde allerdings die geplante Verlängerung der Straßenbahn gestoppt. Mit dem fahrscheinfreien Fahren sind die Fahrgastzahlen um 62 Prozent gestiegen, auf einigen Strecken sogar um über 90 Prozent. Finanziert wird der ÖPNV durch die kommunale Unternehmenssteuer.

Als erste Großstadt hat die estnische Hauptstadt Tallinn 2013 den Gratis-ÖPNV eingeführt – allerdings nur für die gemeldeten Einwohner*innen, weswegen etliche Menschen aus dem Umland ihren Erstwohnsitz in die mittlerweile 450.000 Seelen zählende Stadt verlegt haben. Auf den Zugstrecken von den Außenbezirken zum Hauptbahnhof vervielfachte sich das Fahrgastaufkommen, während es in den vier vorwiegend die Innenstadt erschließenden Tramlinien um zehn Prozent stieg. Mittlerweile fährt in den meisten estnischen Landkreisen der ÖPNV für die Bewohner*innen kostenlos.

Mit Luxemburg stellte 2020 der erste Staat den gesamten ÖPNV auf kostenfreie Nutzung um. Dieses aus Steuermitteln finanzierte Angebot richtet sich ausdrücklich nicht nur an die rund 645.000 Einwohner*innen des Großherzogtums, sondern auch an Tourist*innen und die über 200.000 Beschäftigten, die täglich nach Luxemburg pendeln, bislang überwiegend mit dem Auto. Wie viele von ihnen nun auf den ÖPNV umgestiegen sind, lässt sich wegen pandemiebedingtem Homeoffice schwer einschätzen. Unabhängig davon wird die 2017 in Betrieb genommene Straßenbahn der Hauptstadt in mehreren Etappen verlängert.

Als zweiter EU-Staat gab Malta im Oktober seine Busse zur fahrscheinlosen Benutzung frei – allerdings nur für die Wohnbevölkerung, Tourist*innen müssen weiterhin zahlen.
Momentan gibt es in Deutschland zwei Orte mit für die Nutzer*innen kostenlosen ÖPNV: das nordrhein-westfälische Monheim (44.000 Einwohner*innen) und das oberbayerische Pfaffenhoffen an der Ilm (26.000). In Tübingen fährt seit 2018 der ÖPNV samstags kostenlos. Dies galt von 2019 bis 2021 auch in Ulm, bis die Gemeinderatsmehrheit aus CDU, FDP, Freien Wählern und AfD die Kosten von einer Million Euro jährlich zu hoch fand.

Fazit: Kostenloser ÖPNV bewegt durchaus einige, aber längst nicht alle Menschen zum Umstieg. Richtig Fahrt aufnehmen wird die Mobilitätswende erst dann, wenn der Autoverkehr seine zahllosen Privilegien verliert – wenn etwa die Folgekosten von Unfällen, Lärm, Abgasen und globaler Erhitzung den Verursacher*innen angelastet werden. Der BUND setzt sich für niedrige ÖPNV-Tarife ein, die gesellschaftliche Teilhabe durch Mobilität für alle ermöglicht. Ganz kostenlos sollte der ÖPNV aber nicht sein, damit ein Anreiz bleibt, sich zu Fuß oder mit dem Rad zu bewegen.

Dieser Artikel erschien in der BUNDzeit 2022-4. Mehr zum Schwerpunktthema ÖPNV:

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