Randbebauung als Rache

09. August 2024 | BUNDzeit-Artikel, Bauen, Artenvielfalt, Flächenschutz, Populismus, Stadtentwicklung, Stadtnatur

Zehn Jahre nach dem Volksentscheid zur Nichtbebauung des Tempelhofer Felds versucht der Senat, die Geschichte zurückzudrehen. Das hat wenig mit Wohnungsknappheit, aber viel mit Populismus und verletztem Stolz zu tun.

Auch 16 Jahre nach der Flughafenstilllegung ist kein Nachnutzungskonzept für das Flughafengebäude in Sicht (Foto: Sebastian Petrich)

Eines muss man SPD und CDU lassen: Sie haben nie einen Hehl daraus gemacht, das durch den Volksentscheid 2014 zustande gekommene Tempelhof-Gesetz rückgängig machen zu wollen. Hätten die beiden Parteien nach den Abgeordnetenhauswahlen von 2016 oder 2021 eine gemeinsame Mehrheit erhalten, so hätte sich mit Sicherheit auch damals schon die Formulierung in ihrem Koalitionsvertrag gefunden, man wolle angesichts der Wohnungsnot das Tempelhofer Feld bebauen. Selbstverständlich nur „behutsam“, was auch immer damit gemeint ist, und nur am nicht weiter definierten „Rand“. Offensichtlich haben beide Parteien noch eine offene Rechnung mit dem freien Feld und sinnen auf Vergeltung für den als Niederlage empfundenen Volksentscheid.

Wie die im Koalitionsvertrag von 2023 angekündigte „Neubewertung durch die Berlinerinnen und Berliner“ konkret aussehen soll, bleibt nebulös. Nach wie vor sieht die Landesverfassung keine von Regierung oder Parlament veranlassten Volksentscheide vor. Wie will die CDU-SPD-Koalition eine Zweidrittelmehrheit bekommen, um das zu ändern? Ob eine von der SPD ins Spiel gebrachte, mit einfacher Mehrheit zu beschließende „konsultative Volksbefragung“ verfassungskonform wäre, ist alles andere als sicher. Doch darüber reden die schwarz-roten Koalitionär*innen nicht so gern.

Stattdessen haben sie eine angeblich ergebnisoffene „Dialogwerkstatt“ initiiert, in der 275 zufällig ausgeloste Bürger*innen ihre Vorstellungen über die Zukunft des Tempelhofer Felds artikulieren sollen. Zu welchen Ergebnissen die Werkstattteilnehmer*innen kommen, ist aber egal, denn in jedem Fall will der Senat anschließend einen internationalen Bauwettbewerb veranstalten. Die „Dialogwerkstatt“ redet bestenfalls über das Wie, nicht über das Ob. Da sie die wichtigste Frage ausschließt, nämlich ob das Feld überhaupt bebaut werden soll, gibt sie sich als Fake-Beteiligung, als Alibi-Dialog zu erkennen.

Genügend Wohnungen auch ohne Tempelhofer Feld

Ginge es SPD und CDU tatsächlich um eine Diskussion der „gesamtstädtischen Bedarfe“, wie es Bausenator Christian Gaebler (SPD) behauptet, so müssten sie darüber sprechen, was wirklich schnell und verlässlich Wohnraum schafft. Die Daten könnten sie direkt aus Gaeblers Haus bekommen, denn seine Fachleute haben bei ihrer Arbeit am noch nicht veröffentlichten Stadtentwicklungsplan Wohnen 2040 (StEP Wohnen) Flächenpotenziale für 249.000 Wohnungen identifiziert, und das ohne Tempelhofer Feld. Den Bedarf an zusätzlichen Wohnungen bezifferte der StEP Wohnen auf 222.000. Und wie viele Wohnungen soll die „behutsame Randbebauung“ bringen? Gerade einmal 5.000.
Wer das Tempelhofer Feld als Lösung für die Wohnungsnot verkauft, streut den Leuten Sand in die Augen. Oder betreibt Populismus. Wie sonst sollte man es nennen, wenn Politiker*innen mantraartig immer wieder die gleichen vermeintlich einfachen Lösungen präsentieren, die keinem ernsthaften Faktencheck standhalten, mit denen sie aber verlässlich billigen Beifall bekommen?

Das Tempelhofer Feld ist längst Spielball des Kulturkampfs geworden, der die Gesellschaft entlang diverser Linien spaltet. Daran sind Vertreter*innen der Berliner Regierungsparteien nicht ganz unschuldig, beteiligen sie sich doch gern an dem Spiel, die Bezirke innerhalb und außerhalb des S-Bahnrings gegeneinander auszuspielen. Die große Freifläche dient dabei als Projektionsfläche. Sie steht stellvertretend für die tendenziell grün wählende, weltfremde, ideologiegesteuerte, Lastenfahrrad besitzende Innenstadtelite, die Geld wie Heu hat, obwohl ihr Arbeit ein Fremdwort ist, und die sämtliche Diskurse dominiert, obwohl sie doch nichts kapiert. Ihr gegenüber stellen die Populist*innen die fleißigen Menschen aus den Außenbezirken, die morgens aufstehen und arbeiten – gern verkörpert durch die mobilitätseingeschränkte Krankenschwester, die auf dem Weg zur Nachtschicht regelmäßig eine Waschmaschine transportieren muss, aber dank grüner Bevormundung in den Innenstadtbezirken keinen Parkplatz findet. Die unausgesprochen mitschwingende Botschaft in der Tempelhof-Diskussion lautet: „Es ist nur gerecht, wenn wir den Innenstadt-Hippies ihren Spielplatz wegnehmen.“

Brache? Ganz im Gegenteil!

Dass die Realität wesentlich komplexer ist, könnten die Populist*innen jeden Tag auf dem Tempelhofer Feld erleben. Prekär lebende Menschen aus dicht bebauten Innenstadtkiezen treffen beim Familienpicknick auf wohlhabende Sportbegeisterte aus den Randbezirken, manche sind jung, andere sind alt, viele etwas dazwischen. Die Feldbesucher*innen wollen spazieren gehen, Ball spielen, Kindergeburtstag feiern, ihre Ruhe haben oder einfach mal einen weiten Horizont sehen. All das geschieht problemlos nebeneinander. Das Tempelhofer Feld hat längst eine gesamtstädtische Funktion; es ist alles Mögliche, aber keine ungenutzte Brache, die – natürlich „behutsam“ – entwickelt werden müsste.

Aus ökologischer Sicht ist die größte innerstädtische Freifläche ohnehin etwas Besonders. Sie muss nicht bewaldet sein, um als Kaltluftgenerator zu funktionieren. Wichtig ist, dass sie nicht versiegelt ist. Eine Randbebauung, egal wie „behutsam“, würde diesen Effekt zerstören. Da große offene Wiesenlandschaften selten geworden sind, spielt das Tempelhofer Feld für die Artenvielfalt eine wichtige Rolle. Vor allem im inneren Bereich, der teilweise eingezäunt und für Menschen nicht zu betreten ist, leben Wildbienen und geschützten Vogelarten wie Steinschmätzer, Feldlerche, Neuntöter, Braunkehlchen und Grauammer. Wenn der äußere Bereich bebaut wird, verlagern sich die menschlichen Aktivitäten zwangsläufig weiter nach innen, zum Schaden von Flora und Fauna.

Das Tempelhof-Gesetz hat keine Ewigkeitsklausel. Wie alle anderen Gesetze kann es geändert werden. Wenigstens sollte man die Diskussion aber ehrlich führen. Nichts spricht dafür, dass eine wie auch immer geartete Bebauung des Tempelhofer Felds die Wohnungsnot Berlins lindern kann, schon gar nicht in absehbarer Zeit. Alles spricht dafür, dass es sich um eine einzigartige, unersetzbare Fläche mit vielfältigen Funktionen für Umwelt, Natur und Stadtgesellschaft handelt. Leider wird das erst dann zum Allgemeinwissen gehören, wenn das Feld in seiner heutigen Form nicht mehr existiert. Aber noch ist es längst nicht so weit.

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