„Dass wir unsere Prognosen alle zwei Jahre erneuern, hat einen Grund“

04. August 2018 | BUNDzeit-Artikel, Demografie, Gesellschaft, Klimawandel, Migration, Stadtentwicklung

Jörn Ehlert vom Amt für Statistik Berlin-Brandenburg über unerwartete Ereignisse, wanderlustige Altersklassen und die Ausdehnung des Speckgürtels

Alterung hin oder her: Mehr Stadtgrün brauchen wir sowieso

BUNDzeit: Herr Ehlert, auf wie viele Jahrzehnte gesicherter Bevölkerungsdaten können Sie zurückgreifen?

Jörn Ehlert: Für Berlin haben wir schon seit 1871 die ersten Zahlen. Aber die sind nicht immer methodisch einheitlich, haben Lücken – und nicht für jedes Jahr haben wir Zahlen vorliegen. Zur Demografie gehört mehr als die reine Bevölkerungszahl, nämlich Geburten, Sterbefälle und Zu- und Fortzüge. Richtig geschlossen haben wir die Zahlen seit Anfang der Neunziger.

Jetzt zur Zukunft: Wie funktionieren Bevölkerungsprognosen?

Zunächst bestimmen wir die Komponenten, die die Struktur der Bevölkerung verändern, nämlich Fertilität, Mortalität und Migration. Dann suchen wir uns einen Stützzeitraum – bei den aktuellen Prognosen sind das drei bis fünf Jahre – und sehen uns an, was in den vergangenen Jahren passiert ist: Geburtenrate, Sterblichkeit in einem gewissen Alter und Wanderungsbewegungen.

Auf welchen Zeitraum können sich Prognosen realistischerweise beziehen?

Theoretisch kann ich 100 Jahre im Voraus berechnen. Das Problem sind die Annahmen, die ich treffen muss. Je stabiler eine Bevölkerung bezüglich Fertilität, Mortalität und Migration ist, desto länger kann der Prognosezeitraum sein. Wenn aber ein Ereignis stattfindet, das stark auf das Wanderungsgeschehen wirkt, ist eine Prognose über Jahrzehnte schnell überholt. Unsere aktuellen Prognosen gehen bis 2030, also knapp über zehn Jahre, wobei es einen Grund gibt, dass sie alle zwei Jahre erneuert werden.

Bei der Lebenserwartung können Sie weit voraussehen. Wie entwickelt sich die Gruppe der Hochbetagten zahlenmäßig in den nächsten Jahrzehnten?

Nach Berechnungen des Statistischen Bundesamts hatten wir 2013 bundesweit fünf Prozent Menschen über 80 und werden 2030 acht Prozent und 2060 13 Prozent haben. Für Brandenburg sind die Zahlen ähnlich. In Berlin ist das Durchschnittsalter wesentlich jünger als im Bundesschnitt, sodass für 2030 nur 6,9 Prozent Personen über 80 prognostiziert werden. Das liegt aber nicht an der Lebenserwartung in Berlin, die unterscheidet sich nicht vom Bundesdurchschnitt. Entscheidend ist, dass die Stadtstaaten Zuwanderungsmagneten sind. Und Zuwanderung findet in den mobilen Altersklassen zwischen 20 und 40 statt. Das gilt auch zeitversetzt für die Fortzüge. Ab 40 werden Wegzüge immer seltener.

Wie ist das Verhältnis von Zu- und Fortzügen aus Berlin und Brandenburg?

Wenn man die letzten zehn Jahre betrachtet, gab es in Berlin 23 Prozent mehr Zu- als Fortzüge, in Brandenburg waren es nur 13 Prozent mehr Zu- als Fortzüge. Es gibt migrationswissenschaftliche Theorien, nach denen Wanderung auch Gegenwanderung erzeugt. Dass nur die Zuzugszahlen steigen, passiert selten. 2015 sind mit den Schutzsuchenden die Zuzüge stark angestiegen, bei den Fortzügen passiert das Gleiche verzögert. Die Leute müssen erst einmal hier sein, um wieder wegziehen zu können.

Geht die Abwanderung aus den ländlichen Gebieten weiter?

An den Rändern von Brandenburg schlägt die sogenannte demografische Alterung voll zu. Die Generation, die zur Wendezeit um die 20 war, war schon kleiner als die Generation ihrer Eltern und hat selbst wiederum weniger Kinder bekommen. Unter den Personen, die im letzten Vierteljahrhundert ins Erwachsenenalter gekommen sind, gab es zudem eine hohe Abwanderung. Daher entspricht die Alterspyramide dort dem klassischen Urnenmodell. Im Berliner Umland hat sie eher schon Tannenform, weil es starke Zuzüge der mobilen Altersklassen gibt.

Dehnt sich der Speckgürtel weiter aus?

Ja. Nehmen wir mal vier exemplarische Gemeinden, die nicht mehr zum direkten Umland gehören, aber massive Bevölkerungszuwächse in den letzten fünf Jahren hatten: Bestensee 13,7 Prozent, Halbe 12 Prozent, Sydower Fließ 10,3 Prozent und Nauen 5,8 Prozent. Solche Zahlen finden wir sonst nur im direkten Umland. Es entsteht also ein erweitertes Umland, das von der Abwanderung aus Berlin profitiert.

Werden die Haushalte in Berlin kleiner? Diese Frage ist aus Umweltsicht wichtig, weil sie mit dem Flächenverbrauch zu tun hat.

Der Vergleich der Zahlen von 2011 und 2017 zeigt zwei gegenläufige Entwicklungen. Erstens nehmen die Einpersonenhaushalte leicht von 44,6 auf 45,4 Prozent zu. Zweitens steigt aber auch die durchschnittliche Haushaltsgröße von 1,75 auf 1,77 Personen. Das dürfte vor allem mit den gestiegenen Mieten zu tun haben – die Leute müssen auf gleichbleibender Fläche enger zusammenrücken. Der eine Trend ist ein soziologischer, der andere ein wirtschaftlicher.

Ist der Begriff demografischer Wandel sinnvoll? Schließlich gab es schon immer Veränderungen in der Bevölkerungsstruktur.

In der Vergangenheit gab es bedeutende demografische Übergänge. Beispielsweise den ersten Übergang, als die Menschen die Fertilität von zehn auf knapp über zwei Kinder korrigierten, also auf Bestandserhaltungsniveau. Beim zweiten demografischen Übergang in den Sechzigern sank die Fertilität auf unter zwei Kinder. Bei einer ansteigenden Lebenserwartung und sinkender Fertilität reden wir über demografische Alterung. Es passieren verschiedene Dinge, die ich alle demografischen Wandel nennen würde.

Sehen Sie überraschende Trends?

Bisher haben wir die Erhöhung des Geburtenalters registriert. In der DDR lag das durchschnittliche Alter der Mutter bei Geburt bei 22 bis 23 Jahren, jetzt sind wir bei knapp über 30 Jahren. In den letzten zwei Jahren haben wir in Brandenburg wieder ein jüngeres Alter der Mutter bei Geburt festgestellt. Möglicherweise ist das ein Effekt der Zuwanderung, denn die ausländischen Frauen bekommen ihre Kinder deutlich früher. Und es gibt seit zwei Jahren wieder steigende Geburtenraten. Auch das war die letzten zwanzig bis dreißig Jahre lang anders.

Zur Person

Jörn Ehlert leitet das Referat Bevölkerungs- und Kommunalstatistik im Amt für Statistik Berlin-Brandenburg. Zuvor war er Fachreferent für die Kommunalstatistik und im Rahmen des Zensus 2011 für die Gebäude- und Wohnungszählung zuständig. Der Diplom-Demograf beschäftigt sich mit bevölkerungsrelevanten Zusammenhängen. Dazu zählen auch Bevölkerungsvorausberechnungen auf unterschiedlichen räumlichen Ebenen – für Bundesländer, Städte und Gemeinden. 

Das Interview führte Sebastian Petrich. Es erschien in der BUNDzeit 2018-3 (Titelthema: Demografischer Wandel).

 

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