Das 9-Euro-Ticket sei die bisher beste Idee seiner Regierung gewesen, sagt Olaf Scholz. Damit könnte der Bundeskanzler Recht haben. Ob das Ticket wie beabsichtigt die Inflation dämpfte, sei dahingestellt. Auch als direkte Klimaschutzmaßnahme wirkte es eher nicht. Als Debattenöffner jedoch war der Sommer des fast kostenlosen Bahnfahrens höchst erfolgreich. Innerhalb weniger Wochen haben sich Millionen frühere Fußballbundestrainer*innen, Virolog*innen und Militärexpert*innen zu Eisenbahnfachleuten weitergebildet. Aber Spaß beiseite: Viele von ihnen sprechen nun tatsächlich aus eigener Erfahrung.
Zwischen Juni und August 2022 legten täglich durchschnittlich 44 Prozent mehr Fahrgäste Strecken von 30 bis 300 Kilometer per Bahn zurück als im Sommer 2019. An Wochenenden waren sogar doppelt so viele Menschen unterwegs wie im letzten Vor-Pandemie-Sommer. Aber nur 17 Prozent der Nutzer*innen des 9-Euro-Tickets wechselten von anderen Verkehrsmitteln zu den Öffentlichen, zehn Prozent der Ticketinhaber*innen unterließen im August mindestens eine ihrer täglichen Autofahrten. Mit anderen Worten: Viele, die ohnehin mit dem ÖPNV unterwegs sind, haben nun zusätzliche Fahrten unternommen und auch einige Radfahrende sind vorübergehend in Bahnen und Busse umgestiegen. Aber: Die Situation in Deutschland im Sommer 2022 war eine Ausnahmesituation. Alle wussten, dass es das 9-Euro-Ticket nur kurze Zeit geben würde; selbst schuld, wer es nicht ausgiebig nutzte. Dieser Effekt wird bei einem dauerhaften Nachfolgeticket nicht eintreten.
Das Angebot muss stimmen
Ein gutes ÖPNV-Ticket hat mindestens drei Voraussetzungen: Seine Preise sind sozialverträglich gestaltet, es schafft Mobilität und Erreichbarkeit auch in der Fläche und setzt Anreize, in die Öffentlichen zu wechseln. Der BUND fordert daher ein 365-Euro-Jahresticket, das auch für einzelne Monate gekauft werden kann, also eine bundesweite ÖPNV-Monatskarte für 30 Euro. Ergänzend soll es für Menschen mit geringem Einkommen weiter ein 9-Euro-Ticket geben.
Klar: Ein 365-Euro-Ticket und ein wirklich attraktiver ÖPNV stellen eine finanzielle Herausforderung für die öffentliche Hand dar – und das 9-Euro-Ticket hat deutlichen Verbesserungsbedarf im Bahn- und Busverkehr bzw. bei der dazugehörigen Infrastruktur gezeigt. Die Regionalisierungs- und Gemeindeverkehrsfinanzierungsmittel, die der Bund den Ländern überweist, reichen längst nicht aus. Der BUND schlägt vor, die CO2-Abgabe und die Lkw- Maut für den Ausbau des ÖPNV zu nutzen und klimaschädliche Subventionen wie Dienstwagenprivileg, Steuervorteile und -befreiung für Diesel und Kerosin abzuschaffen.
Brandenburger Blockade
Für die Fahrgäste in Berlin ist es erfreulich, dass sie bis Jahresende ein 29-Euro-Ticket bekommen, auch wenn es die Verhandlungsposition der Länder gegenüber dem Bund nicht stärkt. Weniger erfreulich ist die generell zögerliche Haltung des Landes Brandenburg, wenn es um den ÖPNV geht. Ob der Einwand, ein Flächenland habe andere Mobilitätsbedürfnisse, wohl alle 327.000 Menschen, die täglich von Brandenburg nach Berlin pendeln, überzeugt? Weil es auch für den Tarifbereich C keine Ausnahme gibt, werden jetzt noch mehr mit dem Auto über die Berliner Stadtgrenze fahren und erst dort in die S-Bahn einsteigen.
Wenn Brandenburg vom Bund mehr Geld für den Regionalverkehr auf der Schiene verlangt, ist dies zwar absolut richtig, aber längst nicht ausreichend. Vielmehr müsste das Land auch eigene Haushaltsmittel einsetzen, um in der Fläche eine akzeptable Grundversorgung zu gewährleisten. Wir wollen den Anteil des gesamten ÖPNV am Verkehr bis 2035 verdoppeln. Das setzt ein Landesnetz aus Bahn und Bus mit Mindestbedienstandards voraus. Aus jedem Oberzentrum in Brandenburg soll Berlin Mitte in einer Stunde und aus jedem Mittelzentrum in weniger als 90 Minuten erreichbar sein, täglich zwischen fünf und null Uhr. Dazu brauchen wir ein Mobilitätsgesetz in Brandenburg, für das sich der BUND einsetzt.
Schnellere Busse
Viele Verbesserungen des ÖPNV brauchen Zeit. Neue Züge müssen bestellt, mehr Personal ausgebildet, Bahnstrecken neu gebaut werden. Doch es gibt auch Optionen, den ÖPNV kurzfristig leistungsfähiger zu machen. Möglichst viele Fahrgäste sollen Tickets ohne Mitwirkung der Busfahrer*innen kaufen können. An den Ampeln müssen Busse und Straßenbahnen endlich Vorrang erhalten, technisch wäre das längst möglich. Und die BVG muss noch konsequenter Autos von den Busspuren abschleppen. All dies beschleunigt die Umläufe der Busse, sodass mehr Fahrten mit gleich viel Bussen und Fahrer*innen möglich sind.
Für große Entlastung des Berufsverkehrs könnten die Landesregierungen recht schnell sorgen, indem sie den Schulbeginn auf eine spätere Uhrzeit legen. Außerdem sollten sie möglichst vielen eigenen Beschäftigten das Arbeiten zuhause ermöglichen und sich auf Bundesebene für das Recht auf Homeoffice einsetzen. Während mittel- und langfristig in den Ballungsräumen vor allem das Bahnnetz ausgebaut und elektrifiziert werden muss, braucht es für die ländlichen Gebiete neue Bedienformen. Eigentlich müsste in Landstrichen wie der Prignitz längst ausprobiert werden, wie ein modernes, digital gesteuertes Sammeltaxi als Zubringer zu Bus und Bahn funktioniert. Wo die Leute nicht zum ÖPNV kommen können, kommt der ÖPNV eben zu den Leuten. Doch das ist der Brandenburger Landesregierung wohl zu viel Innovation. Ironischerweise testet nun ausgerechnet die BVG mit Muva genau dies. Immerhin nicht in den Innenstadtbezirken, sondern in den eher dünn besiedelten östlichen Außenbezirken.
Dieser Artikel erschien in der BUNDzeit 2022-4. Mehr zum Schwerpunktthema ÖPNV:
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