„Sie gehören zu Berlin wie die Touristen“
Derk Ehlert, Wildtier- und Jagdreferent der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, über Füchse, Wildschweine, Waschbären und andere wildlebende Tiere in der Stadt
Da haben wir Glück, dass wir Sie im Büro erwischen. Als Wildtierreferent sind Sie wahrscheinlich viel draußen unterwegs?
Viel zu wenig. Ich bin zwar auch für die Tiere da, aber mehr noch für die Menschen, die mit den Tieren im Stadtgebiet zunächst nicht umgehen können. Ich staune immer wieder, wie überrascht die Großstädter von dem Wildtiervorkommen sind. Die Tiere selbst können wunderbar ohne mich leben. Die kommen auch ohne mich zurecht, wenn ich im Urlaub bin.
Bitte geben Sie uns einen kurzen Überblick über die wichtigsten wildlebenden Säugetiere in Berlin: Wer wohnt wo?
Die Fledermäuse sind überall zuhause. Ebenso die Füchse, die stadtweit vorkommen – auch im Zoologischen Garten, was dessen Direktor natürlich nicht erfreut. Die Wildschweine halten sich eher in der Peripherie auf. Vielleicht ein bis zwei Mal im Jahr wagt sich eines aber auch weiter vor, etwa bis zum Alexanderplatz. Waschbären sind überall: in der Friedrichstraße, am Nollendorfplatz, am Kudamm. Sie wurden in den 20er Jahren aus Nordamerika importiert, als Jagdwild und weil man aus ihnen Pelzmützen gemacht hat, die heute keiner mehr tragen will. Es ist faszinierend, wie häufig sie vorkommen und wie selten sie zu sehen sind. Derzeit haben wir schätzungsweise 400 Waschbärfamilien, also Weibchen, Männchen und mindestens ein Jungtier aus dem Vorjahr. Bei schlechten Umweltbedingungen kommen nicht nur weniger Jungtiere auf die Welt, sondern auch überwiegend männliche, die dann das Geburtsrevier verlassen. Wenn wir in der Stadt das Futter für die Waschbären reduzieren würden, käme es zu vielen Auswanderungen. Damit ist aber nicht zu rechnen. Eher im Gegenteil. Durch den Nahrungsüberfluss wird in den nächsten Jahren der Bestand vermutlich deutlich zunehmen.
Gibt es heute mehr Wildtiere in der Stadt als früher?
Nehmen wir als Beispiel den Rotfuchs. Er wurde in den 40er Jahren in London erstmals in städtischer Umgebung gesehen. Heute dürften wir aber wesentlich mehr Füchse in der Stadt haben als London. Insgesamt haben wir einen Artenschwund, jeden Tag sterben bundesweit Arten aus. Zumeist sind das kleinere Arten, die nicht so auffallen.
Kann man die Wildtiere, zum Beispiel die Wildschweine, zahlenmäßig erfassen?
Kaum. Tote Tiere stellen die einzige Möglichkeit dar, Zahlen über die Bestände zu erhalten. Vor fünfzig Jahren wurden deutschlandweit jährlich etwa 50.000 Wildschweine erlegt oder überfahren. Heute sind es 650.000.
Kann der Wolf, der sich ja wieder in Brandenburg ansiedelt, hier regulierend eingreifen?
Dazu gibt es zu wenige Wölfe. Außerdem frisst der Wolf zwar ab und zu ein Wildschwein, aber in der Regel nur Kranke oder Frischlinge. Insgesamt macht es weniger als zehn Prozent seiner Nahrung aus. Außerdem haben Wölfe riesige Reviere und könnten beim besten Willen den hohen Wildschweinbestand nicht reduzieren.
Angst vor Wölfen muss man in Berlin wohl kaum haben, wie sieht es mit tollwütigen Füchsen aus?
In Berlin gibt es seit zwanzig Jahren keinen Fall von terrestrischer Tollwut mehr bei Füchsen und seit 2008 gilt die Bundesrepublik als komplett tollwutfrei. Wenn wir heute in Berlin einen Fuchs sehen, der nicht sofort abhaut, dann ist dies angepasstes Verhalten. Die Füchse wissen, dass wir keine Gefahr für sie bedeuten. Wenn sie vor uns so viel Angst hätten, wie es die Füchse draußen im Wald noch haben, dann würden wir nie einen Fuchs sehen.
Nun ist ja oft die Rede von Wildtierschäden. Haben sie auch nützliche Funktionen für uns – beispielsweise als Aasfresser?
Ob nun ein Fuchs den Müll bei McDonalds oder sonstwo auffrisst, spielt letztlich keine Rolle. Einige Menschen meinen, dass sie keine Rattenprobleme mehr haben, seit der Fuchs da ist.
Hier die nützlichen Wildtiere, da die Schädlinge, kann man so rechnen?
Ich mag die Begriffe Nützlinge, Schädlinge, Plage nicht. Das ist immer eine Frage der Perspektive. Für uns mag der Nutzen von Füchsen oder Waschbären in der Stadt schwierig zu sehen sein. Grundsätzlich müssen sie etwas nutzen, sonst wären sie nicht da.
Was raten Sie den Bürgern, die sich über Schäden an Haus oder Garten beschweren? Wie weit darf das Vergrämen von Tieren gehen?
Es ist alles erlaubt, was das Tier nicht tötet. Wobei Wildschweine gejagt werden, wo es möglich ist, also im Wald. Das hat aber weniger mit Schäden am Privatbesitz als vielmehr mit dem Risiko von Verkehrsunfällen zu tun. Bei Fuchs, Waschbär, Dachs und Marder schreiten wir nur ein, wenn sie handzahm geworden sind und sich nicht mehr vertreiben lassen.
Lässt sich das gut vermitteln?
Viele Bürger finden, dass sich der Staat um zu viele Dinge kümmert, aber wenn es ein Problem im eigenen Garten gibt, soll er handeln. Dann fordern sie oft, die Tiere zu töten oder zu betäuben und im Wald auszusetzen. Das ist weder erlaubt noch sinnvoll. Denn kaum wird ein Revier frei, wird es wieder belegt. Und wenn der alte Revierbesitzer ein starkes Exemplar war, wird das Revier nun unter zwei oder drei Tieren aufgeteilt. Das Wegbringen funktioniert auch nicht: Unsere Wildtiere sind in der Stadt zuhause und kommen wieder zurück, manchmal sogar an den gleichen Ort. Sie sind Teil der Stadtnatur und gehören zu Berlin wie die Touristen. Es gibt übrigens keine private Organisation, die massenhaft Wildtiere aufnimmt. Man muss auch akzeptieren, dass es verletzte Tiere gibt, denen man nicht helfen kann.
Was können wir tun, damit sich die Wildtiere in der Stadt wohlfühlen – außer sie in Ruhe zu lassen?
In Ruhe lassen ist das Wichtigste. Und auf keinen Fall füttern! Das ahnden wir mit bis zu 5.000 Euro Geldbuße. Wenn man ihnen etwas Gutes tun will, muss man ihnen Lebensraum und Wandermöglichkeiten lassen. Biotopverbindungen zu erhalten oder zu schaffen, muss nicht immer bedeuten, Schutzgebiete einzurichten. Mitten in Hohenschönhausen gibt es Feldhasen, die es wenig interessiert, ob dort ein Schutzgebiet ist. Die Tiere brauchen Dickicht und Dunkelheit in den Grünanlagen, viele Menschen sehen das im Hinblick auf die Sicherheit skeptisch. Allerdings kann man auch am Kurfürstendamm überfallen werden.
Dieses Interview erschien in der BUNDzeit 2011-4