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„Wenn es keinen Grenzwert gibt, hat keiner das Problem im Blick“

Marion Wichmann-Fiebig, Leiterin der Abteilung Luft im Umweltbundesamt, über Messverfahren, die Entstehung von Grenzwerten und das größte Problem der Kohlekraftwerke

BUNDzeit: Frau Wichmann-Fiebig, wie misst man Luftverschmutzung?

Marion Wichmann-Fiebig: Das hängt vom Schadstoff ab. Feinstaub fängt man in einem Filter auf, den man vorher und nachher wiegt, die Differenz entspricht der Feinstaubmenge. Bei Gasen bedient man sich optischer Verfahren oder chemischer Reaktionen.

Braucht man sehr viele Stationen, um die Schadstoffe in ihrer Gesamtheit zu messen?

Da es in erster Linie um die Einhaltung von Grenzwerten geht, wird am höchstbelasteten Standort gemessen. Aber natürlich möchte man auch wissen, woher die Stoffe kommen und wie es in der Umgebung aussieht. Deshalb misst man auch an ein paar anderen Stellen und im Hintergrund. Ergänzt wird das durch eine Modellrechnung: Entweder überträgt man Werte von einer Straße auf die andere oder man modelliert, welche Abgasmengen in der Luft sind und zu welchen Konzentrationen das führt – vorausgesetzt, man hat genügend Rechenkapazität. Das machen die Städte sehr unterschiedlich. Es hat keinen Sinn, jede Straße mit Messstationen auszurüsten, denn davon wird die Luft auch
nicht besser.

Können Sie die Todesfälle quantifizieren, die auf Luftverschmutzung zurückgehen?

Ja, wir können recht gut abschätzen, wie hoch die Konzentrationen der gefährlichsten Schadstoffe sind und wie viele Menschen an den Hotspots leben. Wenn man das miteinander verrechnet, kommt man deutschlandweit auf etwa 40.000 vorzeitige Todesfälle aufgrund der Feinstaubbelastung.

Welche Stoffe machen Ihnen derzeit am meisten Sorge?

Feinstaub, Stickstoffdioxid und Ozon. Beim Ozon haben wir die Spitzenkonzentration mittlerweile im Griff, uns beunruhigt aber, dass die Konzentration im städtischen Hintergrund zunimmt. Weil es dort keinen Grenzwert gibt, hat kaum jemand diese Entwicklung im Auge. Ähnlich ist es beim Feinstaub, bei dem außer in Stuttgart der Grenzwert nicht mehr überschritten wird. Nun sind die Feinstaub-Grenzwerte 1999 verabschiedet worden; die Weltgesundheitsorganisation schätzt die Gefahren mittlerweile aber ganz anders ein. Hier müssten die Grenzwerte verschärft werden.

Wie sollten die Grenzwerte denn aussehen?

Im Idealfall sollten sie sich an den Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation orientieren. Beim Feinstaub (PM2,5) liegt die Empfehlung bei 20 μg/m³. Beim Ozon wäre ein Hintergrundwert von 120 μg/m³ in Ballungsräumen als Achtstundenmittel gut, und zwar als verbindlicher Grenzwert.

Welche Rolle spielt das Zusammenwirken von Stoffen?

Grundsätzlich gilt: Wenn jemand nicht nur hoher NO2-Konzentration, sondern auch hohen Feinstaubwerten und immer wieder mal hohen Ozonwerten ausgesetzt ist, sind es jeweils die gleichen Organe, die belastet werden: der Atemtrakt und das Herz-Kreislauf-System. Da verstärken sich die Wirkungen.

Bitte schildern Sie einmal den Entscheidungsprozess, aus dem ein Grenzwert hervorgeht.

Nehmen wir mal die Feinstaub- oder NO 2 -Grenzwerte. Beide sind durch EU-Richtlinien zustande gekommen. Die EU-Kommission, die allein das Initiativrecht für neue Regelungen hat, lässt Studien anfertigen und zieht Fachleute beispielsweise aus der Wissenschaft und aus der Anlagengenehmigung hinzu. Gewöhnlich sind die Vorschläge der Kommission recht ambitioniert. Allerdings fragt sie auch, was realistischerweise einzuhalten ist. Verwässert wird der Kommissionsvorschlag meistens erst im Nachhinein,
wenn einige Mitgliedsstaaten nicht sehen, wie sie den Wert erreichen können. Natürlich wirken auch Wirtschaftslobbyisten auf die Staaten ein und Umweltorganisationen drehen die Schraube in die andere Richtung.

Stickoxide stammen vor allem aus Verbrennungsmotoren, zum Teil aber auch aus Stein- und Braunkohlekraftwerken. Dort ging, anders als bei den Autos, der NOx-Anteil in den letzten 15 Jahren überhaupt nicht zurück. Wie kommt das?

Die Technik der Denox-Anlagen in den Kraftwerken ist im Wesentlichen ausgereizt, nur zu relativ hohen Kosten könnte man sie noch ein bisschen verbessern. Aber das bringt uns nicht viel, denn der Großteil der NO2-Emissionen kommt wie gesagt aus dem Verkehr. Außerdem verteilt sich das NO 2 aus den Kraftwerken großflächig, der Beitrag zur gesundheitlichen Belastung ist daher recht klein. Das große Problem der Kohlekraftwerke sind die Klimagase, das CO2. Das ist der wesentliche Grund, die Braun- und Steinkohlekraftwerke stillzulegen und keine neuen zu bauen.

Abgasgrenzwerte dienen in erster Linie dem Schutz der menschlichen Gesundheit. Berücksichtigen sie auch den Erhalt der Biodiversität?

Die Luftqualitäts-Richtlinie nennt einige Zielwerte zum Schutz von Ökosystemen und der Vegetation. Die sind allerdings nicht verbindlich und so lasch, dass sie nichts bewirken. Neben den Luftgrenzwerten und den anlagenbezogenen Emissionsgrenzwerten hat die europäische Luftreinhaltung eine dritte Säule, die nationalen Emissionsobergrenzen. Aus Sorge vor Versauerung und Eutrophierung haben sich alle EU-Staaten zu einer verbindlichen Reduktion unter anderem von Stickoxiden, Ammoniak und Schwefeldioxid bis zum Jahr 2030 verpflichtet. Der Schwachpunkt bei diesem Ansatz ist, dass er empfindliche Ökosysteme nicht gezielt schützt, zum Beispiel bestimmte Waldgebiete, in denen stickstoffliebende Pflanzen den Bäumen und Kräutern Wasser und Licht nehmen.

Welche Regelungen zur Luftreinhaltung haben sich in der Vergangenheit als besonders wirkungsvoll erwiesen?

Ein großer Erfolg war der Partikelfilter. Von Stuttgart abgesehen können wir heute überall den Feinstaub-Grenzwert einhalten. Bei seiner Einführung 2005 wurde er in nahezu allen Großstädten überschritten. Jetzt haben wir seit fünf Jahren kein grundsätzliches Problem mehr damit. Das verdanken wir dem Abgas-Grenzwert für Diesel-Pkw, der dazu geführt hat, dass Neufahrzeuge ohne Partikelfilter nicht mehr genehmigt wurden.

Das Gespräch führte Sebastian Petrich. Es erschien in der BUNDzeit 2017-4.

Marion Wichmann-Fiebig, Jahrgang 1959, studierte Meteorologie in Bonn und arbeitete bei der Landesanstalt für Immissionsschutz in Essen und bei der Generaldirektion Umwelt der EU-Kommission in Brüssel. Seit 2003 leitet sie die Abteilung Luft im Umweltbundesamt. Diese Abteilung hat unter anderem die Aufgabe, die Luftqualität zu beurteilen, Maßnahmenpläne zu entwickeln, Risiken für terrestrische Ökosysteme abzuschätzen und das Bundesumweltministerium in Sachen Luftreinhaltung zu beraten.

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