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„Das Vorgehen ist nicht problemadäquat“

Stefan Lieb, geboren 1959, kam über die Arbeit als Krankenpfleger in einer Rettungsstelle zu den Verkehrs-Bürgerinitiativen und studierte Philosophie. Anschließend fand er Zeit für vier Kinder und arbeitete, zuerst ehrenamtlich, beim Arbeitskreis Verkehr und Umwelt UMKEHR und FUSS e. V. Fachverband Fußverkehr. Seit dem Jahr 2000 ist er dort für die Zeitschrift mobilogisch und die Organisation der Bundesweiten Umwelt- und Verkehrskongresse (BUVKO) zuständig. 2015 wurde er Bundesgeschäftsführer von FUSS e. V. Foto: privat

Stefan Lieb, Geschäftsführer von FUSS e. V., über zögerliche Fußverkehrsplanung, Radfahrer in Grünanlagen und weitgehend unbekannte Verkehrsregeln 

Herr Lieb, wird der Anteil der Fußgänger am gesamten Verkehr richtig erfasst?

Wenn gezählt wird, dann nur punktuell, beispielsweise mal auf einer Geschäftsstraße. Alles andere sind Befragungen. Den meisten Menschen ist gar nicht klar, dass sie immer irgendwelche Wege zu Fuß gehen, oft auch längere. Wenn man sie befragt, nennen sie dann nur den Bus, in den sie später eingestiegen sind.

Gibt es auf Bundesebene eigene Fördertöpfe für den Fußverkehr?

Nein, da weigert sich das Bundesverkehrsministerium standhaft. Aber langsam bewegt sich etwas in den Köpfen. Die Kommunen stellen dagegen immer öfter Pläne für nicht-motorisierten Verkehr auf. In der Praxis bedeutet ein Plan für Fuß- und Radverkehr aber, dass die speziellen Interessen des Fußverkehrs untergehen. Es heißt: „Wir machen Fuß- und Radverkehrsförderung“, aber dann geht es immer um Radspuren und -wege.

Hat Radverkehrsförderung nicht auch eine indirekte Wirkung auf den Fußverkehr?

Nur wenn sie dafür sorgt, dass Fahrräder dort fahren, wo sie hingehören, nämlich auf der Fahrbahn. Da sind wir uns mit den organisierten Radlern einig. Aber viele Radfahrende haben einfach noch nicht verstanden, dass sie auf Gehwegen nicht nur andere belästigen, sondern auch sich selbst gefährden, Stichwort: abbiegender Autoverkehr. Interessenkonflikte gibt es auch in Grünanlagen. Wir sagen nicht generell, dass der Große Tiergarten völlig radfrei sein muss, aber es sollte schon größere Bereiche geben, wo beispielsweise Eltern kleine Kinder im Zickzack laufen lassen können, ohne gleich einen Herzinfarkt zu bekommen, wenn ein Radfahrer vorbeikommt. Achsen durch Grünanlagen ja, aber nicht jeder Weg muss für Radfahrer freigegeben sein.

Muss man so etwas mit Verboten regeln?

Wie so oft kann man auf Vernunft und Rücksichtnahme hoffen, aber  ein kleiner Teil der Radfahrer ist nicht einsichtig. Bei langsam radelnde Senioren, die mit ihren fünf Stundenkilometern keinen gefährden, sagt niemand etwas. Aber dann gibt es ja noch die „sportlichen“ Radler, die gern durch Fußgängermassen pflügen – und für die brauchen wir Regeln.

Sind „Rüpel-Radler“ die größte Gefahr für Fußgänger?

Das größere Problem ist der sakrosankte Autoverkehr, der nicht in Frage gestellt wird. Bei Konflikten zwischen Fußgänger und Radfahrern sieht man aber noch den einzelnen Menschen. Deshalb werden Konflikte zwischen Fußgängern und Radfahrern, die es ja gibt, stärker wahrgenommen.

Welche gesetzlichen Änderungen wünschen Sie sich zur Förderung des Fußverkehrs?

Das Wichtigste ist Tempo 30 als Regelgeschwindigkeit innerorts. Und Kommunen sollten mehr Entscheidungsmöglichkeiten bekommen. Ansonsten haben wir eher Wünsche auf Ebene der Verwaltungsvorschriften, etwa dass das Falschparken auf dem Gehweg konsequent geahndet wird. Und wir würden uns über echte Begegnungszonen freuen, wo Fußgänger Vorrang haben. Wir haben bislang nur verkehrsberuhigte Geschäftsbereiche ohne Fußgängervortritt, so wie neuerdings in der Maaßenstraße in Schöneberg. Die große Angst ist ja immer, dass rücksichtslose Fußgänger den restlichen Verkehr blockieren. In keinem unserer Nachbarländer Schweiz, Österreich, Frankreich und Belgien, wo es Begegnungszonen gibt, ist das der Fall. Die Fußgänger queren die Straße, weil sie auf die andere Seite wollen – und das war es auch schon. In den Schweizer Begegnungszonen ist der Autoverkehr flüssiger geworden, weil das starre Ampelsystem weggefallen ist.

Woher kommt diese vorbildliche Haltung in der Schweiz? Der Motorisierungsgrad ist doch ähnlich wie bei uns.

Da muss ich spekulieren. Man sagt ja immer, Länder ohne eigene Automobilindustrie sind freundlicher zu unmotorisierten Menschen.

Neben der Maaßenstraße sollen in Berlin zwei weitere verkehrsberuhigte Geschäftsstraßen entstehen, in der Kreuzberger Bergmannstraße und am Checkpoint Charlie. Reicht das?

Dieses Vorgehen ist nicht problemadäquat. Wir brauchen richtige Begegnungszonen, und zwar zweihundert in der ganzen Stadt. Dazu reichen einfache Maßnahmen: Beschilderung, Tempo 20, weniger Parkplätze. Die geparkten Autos nehmen nicht nur Platz weg, sondern zerstören auch Sichtbeziehungen zwischen Verkehrsteilnehmern.

Setzen Polizei und Ordnungsamt die geltenden Regeln durch?

Sicher ist der Hinweis auf Personalengpässe berechtigt. Wir haben aber den Eindruck, dass die Berliner Ordnungsämter vor allem dort aktiv sind, wo Parkraummanagement betrieben wird. Also dort, wo es um Einnahmen geht. Dann kommt es zu Situationen, wo der Parker auf dem Gehweg unbehelligt bleibt und nebenan der Besitzer eines abgelaufenen Parktickets ein Knöllchen bekommt. Im Prenzlauer Berg haben sie Anwohnerparkplätze so markiert, dass die Überwege an Kreuzungen nicht frei waren. Um mehr Einnahmen zu generieren, schafft man Situationen, in denen Fußgänger mit Kinderwagen kaum über die Straße kommen, wenn sich die Autofahrer nach der Markierung richten.

Was braucht man auf den Gehwegen, was sollte weg?

Zum Gehen gehört auch das Sitzen, gerade ältere Menschen brauchen Bänke. Geschäftsauslagen und Gastronomie machen das Gehen attraktiv, aber die Relation zum vorhandenen Platz muss vernünftig sein. Geparkte Fahrräder gehören auf den Parkstreifen, natürlich mit Abstellanlage. Das schlimmste Hindernis sind parkende und abbiegende Autos. Viele Autofahrer wissen nicht, dass sie beim Abbiegen Fußgängern den Vortritt lassen müssen. Leider ist das auch den meisten Fußgängern unbekannt. Man soll für dieses Recht natürlich nicht sein Leben riskieren, aber auch nicht präventiv einen Meter vor der Kreuzung stehen bleiben, damit das Auto mit hohem Tempo abbiegen kann. 

Dieses Interview erschien in der BUNDzeit 2016-1

Kontakt

Martin Schlegel

Referent für Verkehrspolitik
E-Mail schreiben Tel.: (030) 787900-17

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